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Palliative Dramaturgien

Angesichts ökologischer und gesellschaftlicher Krisen gewinnt Nachhaltigkeit auch im Theater an Bedeutung. Doch statt sich allein auf CO₂-Bilanzen zu konzentrieren, fragt Dramaturg Christian Tschirner nach den Geschichten, die wir uns über unsere Gegenwart und Zukunft erzählen. Inspiriert von der Palliativmedizin überträgt er Erfahrungen aus Sterbebegleitung und Trauerarbeit auf gesellschaftliche Narrative – in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Projekt zu palliativen Dramaturgien.  

Lange spielte Nachhaltigkeit im Theater kaum eine Rolle. Das ändert sich seit ein paar Jahren – sowohl aus technisch-organisatorischer Perspektive als auch inhaltlich. Neue Fragen rücken in den Vordergrund: Wie gehen wir erzählerisch mit dem Ende um? Mit dem Ende von Systemen, Sicherheiten, Weltbildern? Und welche Rolle kann das Theater dabei übernehmen? 

Nachhaltiges Theater: Vom
Footprint zum Handprint

In den letzten Jahren wurden viele Initiativen gestartet, um den ökologischen Footprint der Kunstproduktion zu messen und – wenn möglich – zu verringern. Es entstanden CO₂-Bilanzen, Praxisleitfäden und alternative Produktionsmodelle. Eine Erkenntnis daraus: Der direkte CO₂-Ausstoß durch Kunst ist vergleichsweise gering, doch die zugrundeliegenden Strukturen – Energieversorgung, Gebäudesanierung, Mobilität von Publikum und Künstler:innen – wiegen schwer. Die individuelle Handlungsmacht in diesen Bereichen bleibt begrenzt; entscheidend sind politische und institutionelle Rahmenbedingungen.  

Deshalb rückt zunehmend der so genannte Handprint in den Fokus – also der kulturelle, ideelle Anteil des Theaters zum gesellschaftlichen Wandel. Dabei geht es um zentrale Fragen: Welche Geschichten erzählen wir? Welche Bilder und Metaphern prägen unser Denken? Welche Botschaften vermitteln wir – bewusst oder unbewusst? Denn wie wir über uns selbst und unsere Welt erzählen, beeinflusst unser kollektives Handeln maßgeblich. 

„Happy Endings“ –
ein Symposion zu palliativer Dramaturgie

Unsere Lebens- und Wirtschaftsweise stößt an planetare Grenzen. Liebgewonnene Gewissheiten erodieren. Und die Kommunikation hierüber steckt in einem Dilemma: Betonen wir die Fakten zum Stand der Dinge, laufen wir Gefahr, Hoffnungslosigkeit und gesellschaftliche Lähmung zu befeuern. Verlegen wir uns darauf, über die kleinen Schritte in die richtige Richtung zu sprechen, verharmlosen wir die Situation. Beides hilft nicht weiter. Frei nach Heiner Müllers Diktum „Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft!“ versucht die palliative Dramaturgie, die Zukunft vom Ende her zu denken. Sie übersetzt Erfahrungen aus Sterbebegleitung und Trauerarbeit in gesellschaftliche Erzählungen. Denn nicht nur Individuen, auch Gesellschaften haben ein Verfallsdatum. Die Palliativmedizin kennt fünf Phasen der Trauer: Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Gibt es einen Zusammenhang zwischen persönlicher Trauer und dem Trauern über den Verlust der Welt? Wie kommen wir dazu, unsere Situation zu akzeptieren? Denn erst in der Phase der Akzeptanz ist sinnvolles Handeln wieder möglich.

Derzeit entsteht in Kooperation mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg ein interdisziplinäres Symposion zu palliativen Dramaturgien. Es vereint künstlerische, wissenschaftliche und aktivistische Perspektiven – mit dem Ziel, neue Formen des Erzählens am Rand des Möglichen zu erproben.  

Team

Christian Tschirner

Christian Tschirner (geboren 1969 in Lutherstadt-Wittenberg) nahm nach seiner Ausbildung zum Tierpfleger im Zoo Leipzig ein Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin auf. Anschließend arbeitete er als Schauspieler, Regisseur, Autor und Dramaturg unter anderem am TaT in Frankfurt, Schauspiel Frankfurt, Bochum, Mannheim, Hannover und dem Schauspielhaus Hamburg. Von 2019 bis 2022 war er leitender Dramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. 2023/24 gehörte er zum kuratorischen Team des Festival OSTEN an. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, ist Gründungsmitglied des Autor*innenkollektivs Soeren Voima und der Performancegruppe les dramaturx. 

 

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